So hatte sich Vera Dietrich den Schritt in die Selbstständigkeit nicht vorgestellt. Im September 2017 erhielt die studierte Volkswirtin eine Abmahnung des IDO Interessenverbands. Dietrich betrieb auf DaWanda einen Online-Shop, in dem sie selbst gefertigte und zugekaufte Textilien anbot. Ihr Fehler: Bei einem Schal für 59 Euro hatte sie vergessen die genaue Zusammensetzung zu deklarieren, wie es die Textilkennzeichnungsverordnung der EU fordert. Anstatt anzugeben, dass das Tuch zu 50 Prozent aus Wolle und zu 50 Prozent aus Kaschmir besteht, schrieb sie bloß: „Wolle-Kaschmir-Mischung.“
Vertragsstrafezahlungen als Geschäftsmodell
Diese Geschichte ist leider kein Einzelfall. Laut der letztjährigen Abmahnstudie des E-Commerce-Dienstleisters Trusted Shops erhielten bereits 42 Prozent aller Online-Händler eine Abmahnung – mehr als die Hälfte davon zwischen 2017 und 2018. Die Studie stellt fest, dass sich Abmahnungen zunehmend zu einem lukrativen Geschäft entwickeln. Abmahnvereine durchforsten das Internet nach Verstößen wie einer fehlerhaften Widerrufserklärung oder fehlenden Textilkennzeichnungen. Ihr Geschäftsmodell ist das Generieren von Vertragsstrafezahlungen. Sie suchen deshalb gezielt nach Flüchtigkeitsfehlern, die einem Geschäftsinhaber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wieder unterlaufen werden. Dabei halten sie sich vor allem an kleine Unternehmen, die sich aufgrund ihrer finanziellen Situation schlecht wehren können.
Bei Vera Dietrich ist der IDO, der gemäß der Trusted-Shops-Studie im Jahr 2018 für 55 Prozent aller Abmahnungen im Online-Handel verantwortlich war, indes an die Falsche geraten. Die Kleinhändlerin ließ es auf ein Gerichtsverfahren ankommen. Was im Laufe des Prozesses ans Licht kam, ist entlarvend für die ganze Abmahnindustrie. Abmahnvereine stützen ihre Klagelegitimation darauf, dass sie Verbandsmitglieder, die in demselben Bereich tätig sind wie der Abgemahnte, vor den wettbewerbsverzerrenden Folgen eines Rechtsverstoßes schützen. Dietrich entdeckte jedoch, dass einige der vom IDO ausgewiesenen Mitglieder dem Verband gar nicht angehörten. Brisant ist zudem, was das ZDF-Magazin Frontal 21 herausfand: Der IDO ködert abgemahnte Unternehmen offenbar mit dem Versprechen, als Mitglieder künftig von Abmahnungen des Verbands verschont zu bleiben. Es scheint mithin, dass der Verband gar nicht im Interesse seiner Mitglieder tätig ist, sondern dass sich dessen Abmahngeschäft verselbstständigt hat.
Abmahnmissbrauch bedroht Innovationspotenzial
Das Geschäftsmodell des IDO lohnt sich. Carsten Föhlisch, Justiziar bei Trusted Shops, rechnet in Frontal 21 vor: 2017 hat der IDO 7.000 Kleinhändler einer Online-Handelsplattform abgemahnt. Wenn nur die Hälfte davon eine Konventionalstrafe von 5.000 Euro verwirkt, kommt der Verband auf einen Umsatz von 17,5 Millionen Euro. Die zunehmende Entdeckung der Abmahnung als lukrative Einnahmequelle führt den ursprünglichen Zweck dieses Instruments ad absurdum. Denn rechtlich gesehen handelt es sich bei der Abmahnung um eine Geschäftsführung ohne Auftrag. Eine Geschäftsführung ohne Auftrag ist allerdings nur zulässig, wenn sie im Interesse des Geschäftsherrn, also des Abgemahnten, liegt. Sein Interesse erkennen die Juristen darin, dass er durch die Abmahnung ein teures Gerichtsverfahren vermeiden kann. Doch das Errichten einer Stolperfalle, mit der sich wegen Flüchtigkeitsfehlern Tausende von Euros aus einem Kleinhändler herauspressen lassen, liegt kaum in dessen Interesse.
Tatsächlich gaben in der Trusted-Shops-Studie zwei Drittel der befragten Online-Händler an, sie fürchteten wegen der immer häufigeren Abmahnungen um ihre Existenz. Ein Jahr zuvor hatte erst die Hälfte der Studienteilnehmer Existenzängste wegen des Abmahnunwesens. Das ist eine gefährliche Entwicklung, zumal das latente Bedrohungsgefühl viele Kleinunternehmer dazu bewegt, ihr Geschäft aufzugeben. Auch Vera Dietrich hat ihren Textilhandel eingestellt. Vielleicht schwerer noch wiegt, dass potenzielle Unternehmer unter diesen Umständen gar nicht wagen, ein Startup zu gründen. Dadurch verliert Deutschland Innovationspotenzial.
Gesetz zur Beschränkung des Abmahnmissbrauchs in Vorbereitung
Mittlerweile ist die Politik aufgewacht. Im letzten September hat das Bundesjustizministerium den Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbewerbs“ vorgestellt. Der Gesetzentwurf will den Abmahnmissbrauch in die Schranken weisen, indem er die finanziellen Anreize für Abmahnungen einschränkt und strengere Anforderungen an die Klagebefugnis stellt. Abmahnvereine haben sich künftig einer regelmäßigen Prüfung durch das Bundesamt für Justiz zu unterziehen. Voraussetzung für ihre Klage- und Abmahnberechtigung ist, dass sie mindestens 50 Mitglieder haben, die auf demselben Markt tätig sind wie die Abgemahnten. Außerdem müssen sie über genügend Finanzmittel aus anderen Quellen verfügen, um nicht auf Einnahmen aus Abmahnungen und Konventionalstrafen angewiesen zu sein.
Mitbewerber sind gemäß Referentenentwurf nur noch berechtigt, gegen einen Anbieter vorzugehen, wenn sie „in nicht unerheblichem Maße“ ähnliche Produkte vertreiben oder nachfragen. Wenn der Abgemahnte die Interessen von Verbrauchern oder Konkurrenten durch sein Verhalten bloß unwesentlich beeinträchtigt, schließt der Entwurf ferner die Erstattung der Abmahnkosten aus. Die Vertragsstrafe soll in diesen Fällen bei 1.000 Euro gedeckelt werden. Betroffenen von ungerechtfertigten Abmahnungen erleichtert der Entwurf das Geltendmachen von Gegenansprüchen. Im Übrigen schafft er den „fliegenden Gerichtsstand“ im Wettbewerbsrecht ab. Die Möglichkeit, das Gericht nach den Erfolgsaussichten zu wählen, entfällt. Neu muss sich der Kläger an das Gericht am Geschäfts- oder Wohnsitz des Beklagten wenden.
Hauptanliegen der Online-Händler: Vereinfachung des Wettbewerbsrechts
Das Justizministerium glaubt, der Gesetzentwurf werde die Anzahl der wettbewerbsrechtlichen Abmahnungen um fünf Prozent senken und die Wirtschaft um knapp eine Million Euro entlasten. Dies ist nicht viel. Kommt hinzu, dass wichtige Forderungen von Online-Händlern unberücksichtigt bleiben. So wünschen sich 62 Prozent der Teilnehmer an der Trusted-Shops-Studie, dass die Vertragsstrafen nicht an den Abmahner, sondern an den Staat gezahlt werden müssen. Dadurch würde der finanzielle Anreiz für Massenabmahnungen erheblich sinken. Das Hauptanliegen der Händler ist aber die Vereinfachung der Gesetzgebung. Gesetze sollen so formuliert werden, dass sie nicht zu unbeabsichtigten Verstößen führen.
Für Vera Dietrich nahm die Sache übrigens ein gutes Ende. Das Landgericht Bonn verneinte die Klagebefugnis des IDO. Nachdem sich an der Berufungsverhandlung vor den Oberlandesgericht Köln herausgestellt hatte, dass der Verband in einer eidesstattlichen Versicherung gelogen hatte, zog er die Klage zurück. Dietrich lancierte vor einem Jahr eine Petition an den Bundestag, mit der sie diesen aufforderte, den Abmahnmissbrauch im Wettbewerbsrecht zu bekämpfen. Die Petition erreichte rund 25.000 Unterschriften. Es ist zu hoffen, dass Regierung und Parlament das Anliegen der Unterzeichner ernst nehmen und zumindest den Gesetzentwurf des Justizministeriums bald in Kraft setzen.