Premierminister Boris Johnson beabsichtigt, Großbritannien am 31. Oktober unter allen Umständen aus der EU zu führen. Was bedeutet ein harter Brexit für den deutschen Mittelstand und wie bereiten sich KMU am besten darauf vor?
Es ist eine schallende Ohrfeige für Boris Johnson: Der britische Supreme Court hat dessen Suspendierung des Parlaments aufgehoben. Johnson, der einmal sagte, er würde lieber tot im Straßengraben liegen, als einen weiteren Brexit-Aufschub zu verlangen, zeigt sich indes unbeirrt. Das Königreich werde die Europäische Union am 31. Oktober verlassen. Komme, was wolle. Den Parlamentsbeschluss, der einen No-Deal-Austritt verhindern soll, scheint ihn wenig zu kümmern. Der Premier betont zwar, er strebe mit der EU eine Verhandlungslösung an. Bisher ist jedoch keine Einigung in Sicht. Die Gefahr, dass die Briten am 31. Oktober ohne Vertrag ausscheiden, ist groß.
Fünftgrößter Handelspartner
Ein vertragsloser Zustand hätte für Deutschland ernste Konsequenzen. Großbritannien ist der fünftgrößte Handelspartner. Vergangenes Jahr exportierte die Bundesrepublik Waren im Wert von 82 Milliarden Euro– sechs Prozent des gesamten Exportvolumens – über den Ärmelkanal. Der Brexit hinterließ in den deutsch-britischen Handelsbeziehungen bereits erste Spuren. Seit 2015, dem letzten Jahr vor dem Austrittsreferendum, gingen die deutschen Exporte ins Königreich um acht Prozent zurück. Die Auto- und Autozulieferindustrie, die für ein Viertel der Ausfuhren nach Großbritannien verantwortlich ist, hatte im selben Zeitraum gar einen Rückgang von 23 Prozent zu verzeichnen.
Dies ist allerdings erst ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns bei einem harten Brexit bevorsteht. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung rechnet für Deutschland mit einem jährlichen Wohlfahrtsverlust von 9,5 Milliarden Euro oder 115 Euro pro Kopf. Ein Großteil der Verluste geht auf die Einführung neuer Zölle zurück. Nach einem Austritt ohne Anschlussvertrag ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der Zollunion. Autoimporte werden in diesem Fall auf beiden Seiten des Ärmelkanals mit einem Tarif von zehn Prozent belastet. Für Fahrzeugteile aus Drittstaaten gilt in der EU ein Zollsatz von bis zu 4,5 Prozent, während Großbritannien zum Schutz seiner Autoindustrie vorübergehend keine Zölle auf Autoteile erheben will. Durch die neuen Importabgaben drohen etablierte Wertschöpfungsketten auseinanderzubrechen, überqueren doch viele Produkte während ihres Herstellungsprozesses mehrfach die Grenze.
Zölle, Verkehrschaos und Bürokratie
Abgesehen von Kosten verursachen Zölle einen erheblichen bürokratischen Aufwand. Unternehmen müssen komplexe Zollformalitäten beachten. Eine spezielle Herausforderung sind die Ursprungsregeln. So verlieren mit dem Zeitpunkt eines ungeregelten Brexits alle Vorprodukte und Rohmaterialien aus dem Vereinigten Königreich ihre EU-Ursprungseigenschaft – selbst solche, die sich schon seit Jahren in deutschen Warenlagern befinden. In der Folge können Produkte, die britische Bestandteile enthalten, möglicherweise nicht mehr zollfrei in Länder mit einem Freihandelsabkommen geliefert werden.
Ein weiteres Problem der Zölle ist das Chaos, das ihre Einführung im grenzüberschreitenden Verkehr anrichtet. Deshalb ist – zumindest in der Anfangsphase – mit verlängerten Lieferzeiten zu rechnen. Darunter leidet in erster Linie die Just-in-Time-Produktion. Außerdem besteht die Gefahr von Unterbrechungen bei der Luftfracht. Denn ohne Einigung mit der EU verlieren die Briten den Zugang zum einheitlichen europäischen Luftraum. Auch im Landverkehr sind Schwierigkeiten vorprogrammiert, zumal die Kabotage durch britische Spediteure im EU-Raum nach einem harten Brexit verboten ist. Komplizierter wird darüber hinaus das Entsenden von Mitarbeitern. Um in Großbritannien einer Geschäftstätigkeit nachgehen zu dürfen, braucht es in einem vertragslosen Zustand Visum und Arbeitserlaubnis.
Mittelstand schlecht vorbereitet
Damit nicht genug: Treten die Briten aus, sind sie nicht mehr Bestandteil des harmonisierten europäischen Umsatzsteuersystems. Die Abrechnung der Umsatzsteuer wird damit deutlich aufwendiger. Aufwand verursacht auch die Neuregistrierung von Marken und Geschmacksmustern, falls Großbritannien gewerbliche Schutzrechte aus der Europäischen Union nicht mehr anerkennt. Ebenfalls mit Hürden rechnen müssen Unternehmen, die Personendaten an britische Datenverarbeiter übermitteln. Bei einem ungeregelten EU-Austritt gilt das Inselkönigreich in Sachen Datenschutz nämlich als unsicherer Drittstaat.
Gemäß einer Umfrage des Wirtschaftsprüfers KPMG hatte im Frühling dieses Jahres fast die Hälfte der deutschen Unternehmen keinen Notfallplan für einen harten Brexit. Guntram Wolff, der Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, vermutet gegenüber der FAZ, dass der Mittelstand heute immer noch schlecht gerüstet ist. Doch wie bereiten sich KMU auf einen No-Deal-Brexit vor?
Kostenanalyse durchführen, Lieferstörungen vermeiden
Zunächst gilt es, sämtliche Mehrkosten durch Zölle, Steuern und Gebühren über alle Produktionsstufen hinweg zu berechnen. In die Berechnung sollte einfließen, dass die steigende Komplexität der Lieferbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich eventuell die Einstellung von zusätzlichem Personal erfordert. Bestandteil der Analyse ist auch die Preisgestaltung. Je nach Preiselastizität der Nachfrage lassen sich Brexit-bedingte Kosten in unterschiedlichem Ausmaß an die Kunden weiterreichen. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass ein harter Brexit gerade bei britischen Abnehmern zu einem erheblichen Kaufkraftverlust führt. Die oben zitierte Bertelsmann-Studie beziffert den Rückgang des britischen Bruttoinlandsprodukts auf 873 Euro pro Kopf.
Davon abgesehen müssen Unternehmer analysieren, ob bei einer No-Deal-Situation irgendwo in der Wertschöpfungskette Lieferprobleme drohen. Abhängig vom Ergebnis der Untersuchungen besteht die Notwendigkeit, nach alternativen Zulieferern zu suchen, Spediteure zu wechseln oder den Lagerbestand auszubauen. Unter Umständen ist es besser, den Handel mit britischen Kunden und Lieferanten einzustellen. Auf jeden Fall lohnt es sich, bestehende Verträge um spezifische Brexit-Klauseln zu ergänzen.
Finanzierungsstruktur prüfen
Neue Zölle, mehr Steuern, zusätzliche Lagerhaltung, höhere Speditionsgebühren, steigende Personalkosten, wegbrechende Kundenumsätze in Großbritannien: Ein vertragsloser Zustand zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich kann der Liquidität eines KMU erheblich zusetzen. Aus diesem Grund bedarf die Finanzierungsstruktur bei der Brexit-Vorbereitung besonderer Aufmerksamkeit. Durch die Verwendung vermögensbasierter Finanzierungsarten wie Factoring, Warenfinanzierung oder Leasing lässt sich die Gefahr von Liquiditätsengpässen deutlich verringern.
Boris Johnson mag den Tod im Straßengraben einer seriösen Brexit-Vorbereitung vorziehen. Für den deutschen Mittelstand ist dies keine Option. Kleine und mittlere Unternehmen sollten daher die verbleibende Zeit bis zum 31. Oktober nutzen, um sich für alle Eventualitäten zu wappnen.