Es ist fünf vor Zwölf

Blick aus der Frauenkirche
11. Oktober 2023

Deutschland droht den Anschluss und die über sieben Jahrzehnte aufgebauten Erfolge zu verlieren.

Frauenkirche München

Die deutsche Wirtschaft hat derzeit mit sehr schwierigen Rahmenfaktoren – sowohl exogen als auch eigenverschuldet – zu kämpfen, die negativen Auswirkungen nehmen sukzessive ihren Lauf. Wie eine marode Brücke, die unter der zunehmenden Last einzustürzen droht, müssen nun Notpfeiler installiert werden.

Schon mit Überwinden der Corona-Pandemie hat unsere Volkswirtschaft große Schäden hinnehmen müssen. Doch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben sich die Gegebenheiten nochmals eingetrübt. Waren es zu anfangs die gestörten Lieferketten und der Mangel an Hightech-Komponenten, so sind es jetzt der Wegfall günstiger Energie und die explosiv gestiegenen Refinanzierungskosten.

Wegen anhaltender Teuerung hat die US-Notenbank FED ihren Refinanzierungssatz bereits elf Mal in Folge angehoben. In der letzten Sitzung gab es bei 5,5 Prozent zwar einen Stillstand bei den Anpassungen, die verbale Begleitmusik des FED-Direktoriums mahnte die Akteure aber weiter zur Vorsicht. Auch die EZB behält ihren restriktiven Kurs bei, hier ist der Referenzzins zuletzt auf 4,5 Prozent angepasst worden. Marktteilnehmer erwarten erst für Anfang 2024 erste Anpassungen nach unten.

Zinsen lassen den Bausektor implodieren

Die größten Belastungen aus den hohen Kapitalmarktzinsen haben Private und Unternehmen zu tragen. Speziell für den Konsum und das Baugewerbe schränken sich die Möglichkeiten erheblich ein. Nicht überraschend zeigt sich der GfK-Konsumklimaindex mit minus 25,5 nur leicht erholt gegenüber den Tiefs vom November 2022. Neben den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten drücken nun auch deutlich höhere Hypotheken-Zinssätze auf die Investitionslaune.

Umfragen in Deutschland haben ergeben, dass über 70 Prozent der noch vor zwei Jahren bauwilligen Privathaushalte ihr Vorhaben nun auf unbestimmte Zeit vertagen mussten, da Zins und Tilgungserfordernisse nicht mehr zum gewünschten Wohnraum passen. Laut Destatis sind die Bauanträge bei Ein-, Zwei- und Mehrfamilienhäusern seit Jahresbeginn zwischen 27 und 53 Prozent eingebrochen. Der seit mehreren Jahren bestehende Wohnungsnotstand wird dadurch noch verschärft, da potenzielle Bauherren nun doch auf den Mietmarkt zurückkommen.

Restriktive Kreditvergabe belastet zusätzlich

Nun versucht die Bundesregierung, die prekäre Lage mit einem 14-Punkte-Plan in den Griff zu bekommen. So soll es einen Geschwindigkeits-Bonus für die Erneuerung einer alten Heizung und höhere Einkommensgrenzen für bauwillige Familien geben. Der aktuelle Energie-Förderstandard EH-55 für staatliche Kredite soll nun doch auch nach 2025 bestehen bleiben.

Ob diese Maßnahmen ausreichen, das Bauen wieder attraktiv genug zu machen, bleibt abzuwarten. Denn ein weiteres Hemmnis besteht in der restriktiveren Kreditvergabe durch die Banken. Aufgrund der starken Zinsanpassung müssen diese sehr genau prüfen, ob die Einkommenssituation der Antragsteller eine hohe Verschuldung zulässt.

Die allgemeinen Aussichten haben sich mit Blick auf den September-Wert des ifo-Geschäftsklima-Index auf einen niedrigeren Wert von 85,7 Punkten abgesenkt. Das verarbeitende Gewerbe bleibt unter Druck, neben sinkenden Neuaufträgen baut sich auch der Orderbestand immer weiter ab. Im Bauhauptgewerbe fiel der Index auf den niedrigsten Wert seit Januar 2009. Hier beurteilten die Firmen ihre Lage erneut schlechter und auch die Erwartungen bleiben „äußerst pessimistisch“, wie das ifo in seinen Erläuterungen ausführte. Selbst im zuletzt robusteren Dienstleistungssektor zeigen die Trends nach unten. Stabilisieren konnte sich die Komponente der Erwartungen. Mit 82,9 liegt der Wert zum Vormonat marginal höher und hat seinen Abwärtstrend zumindest gestoppt.

Importierter Atomstrom konterkariert Energiewende

Für die Unternehmen in Deutschland gibt es noch einige offene Komponenten, die die Margensituation in den nächsten Monaten stark beeinflussen können. So wäre ein staatlich subventionierter Strompreis zwar hilfreich, bislang ist aber nicht klar, ob so eine Subvention innerhalb der EU eventuell untersagt werden kann. Wegen der dauerhaft hohen Energiepreise verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie immer mehr. In den sonst eher verbrauchsniedrigeren Sommermonaten hat die Bundesrepublik deutlich mehr Strom importiert.

Gedeckt werden mussten vor allem die nicht mehr vorhandenen Anteile an Kernkraft, was seit der Abschaltung am 15. April ein tiefes Loch in die Strombilanz gerissen hat. Im zweiten Quartal dieses Jahres wurden 7,1 Milliarden Kilowattstunden (kWh) mehr ein- als ausgeführt, wie das Statistische Bundesamt berichtete. Das entsprach ziemlich genau der Strommenge, welche die drei deutschen Kernkraft-Meiler im zweiten Quartal 2022 erzeugt hatten.

Die meisten Einfuhren kamen dabei aus den Niederlanden und Frankreich, das seine Produktion von Atomstrom seit Jahresbeginn wieder deutlich hochgefahren hat. Auch die Nachbarstaaten Polen und Tschechien wollen die Erzeugung von Kernenergie in den nächsten Jahren in den Mittelpunkt stellen. Welcher europäischer Energie- und Klima-Konsens hier offen gezeigt werden soll, bleibt dem Außenstehenden ein Rätsel.

BIP-Wachstum auf 20-Jahres-Tief

Gesamtökonomisch betrachtet bleibt auffällig, dass Deutschland im Wachstum innerhalb der G20-Liste der größten Volkswirtschaften der Welt mittlerweile hintere Plätze belegt. Zwar verharrt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit rund 4 Billionen USD in 2023 auf recht hohem Niveau, innerhalb der Eurozone zeigt das Wachstum aber einen der schlechtesten Werte seit über 20 Jahren. Denn das BIP der Eurozone kann im laufenden Jahr um knapp 1 Prozent zulegen. Getragen wird diese Entwicklung allerdings vor allem von Spanien, Italien und Frankreich.

Für hiesige Verhältnisse ist bemerkenswert, dass andere europäische Staaten die rezessiven Tendenzen aus der geopolitischen Instabilitätund der Energiekrise offenbar bedeutend besser wegstecken als Deutschland. Der oftmals verwendete Terminus „kranker Mann Europas“ lässt sich aus dieser Analyse durchaus bestätigen.

Wo liegen nun die Ansatzpunkte für die deutsche Volkswirtschaft, um gegenüber unseren Nachbarn aufzuschließen? Besonders hart wirken die hohen Preise für Inputfaktoren, welche aber kurzfristig kaum gesenkt werden können. Nach der Tarifsaison etablierte sich ein fast zweistellig höheres Lohnniveau, was wiederum auf die Produkte umgewälzt werden dürfte. Zusätzlich macht sich der Reformstau bemerkbar. Hier ist an oberster Stelle der Bürokratie-Überhang, die nur schrittweise Digitalisierung und die vernachlässigte Förderung von Bildung und Wissenschaft zu nennen.

Mit dem Verlust der internationalen Vormachtstellung im Bereich Automobiltechnik gehen Kernstücke des deutschen Vermögensaufbaus der letzten Jahrzehnte verloren. China und die USA drängen mit modernsten Mobilitätskonzepten auf den deutschen Markt. Die internationale Automobilshow IAA Mobility zeigte eine überbordende Präsenz ausländischer Hersteller mit Preisen, die teils erheblich unter den hiesigen Verkaufsofferten liegen. Sollte Deutschland an dieser Stelle den internationalen Anschluss verlieren, sind hierzulande bis zu 4 Millionen direkte und indirekte Arbeitsplätze gefährdet.

Jetzt muss gehandelt werden. Strukturell ist es geboten, die Rahmenbedingungen so schnell wie möglich wieder zu verbessern, das Ruder sinnbildlich herumzureißen. Fehlentscheidungen sollten korrigiert werden, denn aktuell ist die freiheitlich-liberale Grundordnung unserer Marktwirtschaft auf dem Prüfstand. Wir sollten die Gestaltung unserer Wirtschaft aktiv in die Hand nehmen, anstatt Energien in unsinnigen Diskussionen zu vergeuden. Wird der Druck zu groß und die Einschnitte auf der Einnahmenseite schlagend, verliert der Staat seine Handlungsunfähigkeit.

Deutschland wurde vom Ausland in den letzten Jahren dafür bewundert, wie es ein solides Wachstumskonzept mit maximalen Freiheiten für das Unternehmertum geschaffen hat. Die gesellschaftliche Mitte erwartet an dieser Stelle schon lange keine Wirtschaftswunder mehr, sondern wünscht sich einfach nur stabile Verhältnisse, die eine Planung und Investition in die gemeinsame Zukunft ermöglichen. Um Standortfaktoren zu verbessern, bleibt den Handelnden nicht mehr viel Zeit, denn die Konkurrenz aus dem Ausland verfügt über günstigere Energie und bestens ausgebildete Arbeitskräfte.

In die Zukunftsinvestitionen muss jetzt spürbare Dynamik kommen, allseits beliebtes Wunschdenken hat sich den ökonomischen Realitäten zu unterwerfen und mögliche Ausgaben richten sich in erster Linie nach dem volkswirtschaftlichen Produktionsergebnis, das die notwendigen Steuereinnahmen generiert. Wenn es durch weniger Wachstum oder gar rezessiven Tendenzen zu schrumpfendem Steueraufkommen kommt, muss auch der ständig wachsende Leistungskatalog überdacht werden.

Das deutsche Erfolgsmodell über bereits gut sieben Jahrzehnte droht aktuell zu kippen, weil die Tugenden eines erfolgreichen Kaufmannsüber Bord geschmissen wurden. Wer Innovationen fördern will, sollte die Leistungs-Prinzipien wie Fleiß, Zuverlässigkeit und Qualität wieder auf den Plan holen. Arbeit muss sich lohnen und den Ehrgeiz erzeugen, noch eine Schippe draufzulegen. So funktioniert die sozialeMarktwirtschaft, die Deutschland und Europa groß gemacht hat. Jetzt muss gehandelt werden, denn es ist bereits „5 vor Zwölf“.


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