Standort-Analyse nach der Europa-Wahl

Blick aus der Frauenkirche
19. Juni 2024

Wo steht die Wirtschaft in Deutschland, Europa und der Welt im Sommer 2024? Der Blick auf die Märkte von André Will-Laudien

München Frauenkirche

Die Wahl zum EU-Parlament hat für Deutschland ein eher differenziertes Bild über den Zustand der Gesellschaft geliefert. Der klare Rechtsrutsch indiziert die Wichtigkeit von Themen, die von den aktuell Regierenden nur halbherzig oder gar nicht verfolgt werden. Um nicht eine weitere Spaltung der Gesellschaft zuzulassen, wird teilweise hemdsärmelig und adhoc auf einströmende Themen reagiert, aber im Verlauf mangelt es der EU zentral und den Ländern lokal an Umsetzungswillen und Konsequenz. Mit der nun neugewählten Besetzung haben sich die Fronten im Parlament weiter verhärtet, dem äußerst rechten Spektrum wird sogar sämtliche Koalitionsfähigkeit genommen. Damit ist einer weiteren Stigmatisierung Tür und Tor geöffnet, leichter werden die Debatten damit sicherlich nicht. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Abschottung der Richtungsblöcke dazu führt, dass viel diskutierte und spaltende „Schuhdrücker“ nicht mehr einfach abgestimmt werden können. Statt Konsens wird Dissens an der Tagesordnung sein und das gerade in einer Zeit, in der der angeschlagene Wirtschaftsblock Europa eine dringende Agenda für Fortschritt und Transformation umsetzen müsste.

Der Standort Europa hat durch die Corona-Pandemie, den nachfolgenden Ukraine-Krieg und der nur wenig spürbaren Einheit zuletzt an Schlagkraft und Dynamik verloren. Die USA als Ökonomie vergleichbarer Größe besitzt trotz ähnlicher innerer Spaltung zumindest eine gemeinsame Sprache und die gelebte Überzeugung, dass amerikanische Interessen an oberster Stelle der Regierungspolitik stehen. Dieser „America First“-Grundkonsens wird auch außenpolitisch vertreten und schafft für die Wirtschaft gute Rahmenbedingungen, welche Wachstum zulassen und Innovation nicht blockieren. Damit besitzen die Vereinigten Staaten eine Dynamik, die im aktuellen Umfeld große ökonomische Wettbewerbsvorteile generiert und eine starke Währung mit sich bringen. Die europäische Gemeinschaftswährung hingegen, hat symbolisch nach der Wahl adhoc zwischen 1 und 2 Prozent zu den wichtigsten Tauschwährungen verloren. Wenngleich die mittelfristige Tendenz damit noch nicht entschieden ist, so spiegelt sich die politische Zerrissenheit des alten Kontinents in seiner schwindenden Kaufkraft und konjunktureller Dauerschwäche wider. Ökonomen nehmen den aktuellen Zustand der EU zum Anlass, den Blick trotz aller Probleme nach vorne zu richten. Denn auch wenn die EU-Wahl zunächst weiter spaltet, könnte sie eine wichtige Botschaft senden, die zuletzt gewachsenen Ungleichgewichte endlich einzuebnen, um nicht das Krisen-Szenario aus 2008 bis 2011 erneut durchlaufen zu müssen. Denn in letzter Konsequenz hilft uns nur Einigkeit, die Herausforderungen in Sachen geopolitischer Unsicherheiten, Energie- und Migrationskrise und sinkendes Wachstum zu bewältigen.

Kostenschübe lassen Konsumenten umdenken

Aktuell drückt der Schuh wohl immer noch an der fehlenden Entbürokratisierung und Digitalisierung. Nötige Maßnahmen werden zwar verbal in allen Parlamentsreden verkündet, aber in der praktischen Umsetzung für mittelständische Firmen alles andere als spürbar ist. In Deutschland bleiben die Energiepreise und Lohnkosten ein Thema, eine Entspannung ist zwar kurzfristig in Sicht, die notwendige Nivellierung nach unten können wir aus den gegebenen Umständen aber nicht erwarten. Im Zeitablauf entsteht in den Köpfen der Konsumenten eine erwartete Inflation, also eine antizipierte Preissteigerungsrate, die im Falle ihres tatsächlichen Eintretens weitgehend akzeptiert ist. Anders stellt es sich bei administrierten, also politisch motivierte Teuerungsschüben dar, wie z.B. die Anhebung von Ökosteuern, des Mindestlohns oder die Veränderung von gewohnten Steuersätzen. Hier kann die Reaktion im einen oder anderen Fall sehr stark ausfallen, wenngleich innerhalb Deutschlands und Europa unterschiedlich. Durch die letzten beiden Lohnrunden gab es beispielsweise im Dienstleistungs-, Touristik- und Gastgewerbe extreme Kostenschübe, welche zum ersten Mal auch ökonomische Konsequenzen wie Insolvenzen nach sich ziehen und Konsumenten zum Umdenken zwingen.

Ob die Fußball-EM für Deutschland ein konjunkturelles Sommermärchen bereithält, ist noch nicht gewiss. Mutig rechnen die Berliner Wirtschaftsforscher vom DIW durch die jüngst abflachenden Preissteigerungen, den steigenden Real- und Transfereinkommen und dem robusten Arbeitsmarkt mit einem Anstieg des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) von 0,3 % in diesem und erfreulichen 1,3 % in nächstem Jahr. Neben einem erstarkenden Konsum soll auch der Export wieder in Schwung kommen, hingegen wird bei den Investitionen und im Bausektor noch keine Wende erwartet. Schön, wenn das Szenario tatsächlich eintreten sollte!

Auch in Amerika ist nicht mehr alles Gold was glänzt

Der Blick über den großen Teich zeigt erste sommerliche Schwächetendenzen. Abzulesen ist das freilich nicht an den Aktienindizes, welche im ersten Halbjahr wiederum neue Rekordstände zeigen konnten. Getrieben von Hightech- und Rüstungstiteln und dem Dauerthema Künstliche Intelligenz, entfachten sich zumindest an den Kapitalmärkten immer wieder Wachstumshoffnungen. Die Unternehmen Microsoft, Apple und Nvidia vereinen mittlerweile einen Börsenwert von rund 10 Billionen USD. Erweitert auf den Kreis der sogenannten „Magnificent Seven“ spiegeln diese Hightech-Unternehmen die Leistungsfähigkeit der US-Ökonomie in Sachen Fortschritt und Digitalisierung wider. Sie dokumentieren aber auch die empfindliche Abhängigkeit der Welt von der Machtdomäne der US-Technologieriesen. Die Dominanz auf der technologischen Seite schafft für die USA ein gewisses Grundrauschen in der wirtschaftlichen Entwicklung, welches nur selten unter die 2 %-Grenze fällt. Für 2024 wird von Forschungsinstituten im Schnitt in etwa 3,2 % Wachstum erwartet. Der amerikanische Konsument zeigt dabei ein eher fragiles Bild, denn der viel beachtete Consumer-Index der University of Michigan (MCSI) fiel im Mai von 79,4 auf 69,1 Punkte zurück. Dazu gesellte sich ein ebenso schwacher ISM-index von 48,7. Er sank nun schon zum dritten Mal in Folge und indiziert mit Werten unter 50 eine relativ hohe Abschwungsgefahr, welche die FED demnächst auf den Plan rufen sollte. Börsianer dürften die schwachen Konjunkturdaten als Signal für mögliche Zinssenkungen tendenziell begrüßen, immerhin hat die 30-jährige US-Anleihe mit einer Renditekorrektur von 4,82 auf 4,35 % bereits ordentlich reagiert.

Die chinesische Wirtschaft läuft dank kurzfristiger politischer Anreize immer noch im Plus, dennoch könnten die zunehmende De-Globalisierung und der Protektionismus zu Wachstumseinbußen führen. Die Achse Russland-China stellte sich für beide Staaten zunächst als vorteilhaft heraus, dennoch muss mit fortschreitendem Krieg in der Ukraine erwartet werden, dass der internationale Druck auf China zunimmt. Wegen einer mittlerweile manifestierten Immobilienkrise besteht auch eine fühlbare Gefahr für das chinesische Bankensystem. So ein Szenario kennen wir aus Japan aus dem Jahr 1990. Aktuell versucht die Administration von XI den Regionen zu helfen, denn in den großen Metropolen stehen Millionen Mieteinheiten im Rohbau. Sie werden nicht weitergebaut, weil sowohl Geld als auch Mieter fehlen. Die Bauwirtschaft schwächelt spürbar und Machthaber Xi Jinping sieht sich gezwungen, den taumelnden Immobiliensektor mit Staatshilfen über knapp 70 Mrd. USD unter die Arme zu greifen. Experten internationaler Banken jedoch glauben, dass die veranschlagte Summe bei Weitem nicht reichen wird. Experten berechnen, dass eine Summe von bis zu einer Billion USD nötig sein könnte, um den Häusermarkt vor dem Kollaps zu bewahren. Der mit 300 Mrd. USD verschuldete Immobilien-Konzern „Evergrande“ wurde von Peking einfach fallen gelassen, da Teile der Kreditlast auch aus dem Ausland mitfinanziert wurden. Mittelfristig ist die aktuelle Außenpolitik von Xi mit dem exportorientierten Modell unvereinbar. Einen Taiwan-Konflikt kann sich Peking in der aktuellen wirtschaftlichen Verfassung auch nicht leisten, denn dann verliert Peking seine westlichen Absatzmärkte.

Innenpolitische Probleme in den wichtigsten Konjunkturblöcken der Welt und skurrile politische außenpolitische Entwicklungen, ein Szenario mit hoher Sprengkraft! Deutschland und Europa müssen endlich ihren Kurs in den wichtigen Themen finden und Geschlossenheit zeigen. Denn egal wie der Ukraine-Konflikt weitergeht, der eiserne Vorhang aus dem letzten Jahrhundert wird sich zunächst wohl wieder etablieren. Ebenso schürt das neue geopolitische Paradigma durch die starke Verteuerung von Rohstoffen das Risiko angebotsbedingter Inflationsschocks. Zudem treiben erhöhte Rüstungsausgaben die Verschuldung und den Investitionszyklus in weniger wünschenswerten Sektoren voran, während die höheren Ziele von Frieden und Klimaschutz auf der Strecke bleiben. Wenn wir Glück haben, gibt es auch mal wieder Zeiten der Deseskalation. Aktuell scheint die Welt aber in eine Phase von Handelskriegen, finanziellen Ungleichgewichten und Wettrüsten einzutreten. Leider scheint es so, als hätte die Zeitenwende die allseits herbeigewünschten Themen wie Frieden, Freiheit und Nächstenliebe aber längst kassiert.       


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