Die deutsche Konjunktur hinkt im internationalen Vergleich immer stärker hinterher – das liegt auch an einer falschen Fokussierung der Politik, schreibt unserer Kolumnist ANDRÉ WILL-LAUDIEN
Die Kapitalmärkte feiern neue Höchststände – doch ein Blick auf die deutsche Wirtschaft im europäischen und internationalen Kontext zeigt aktuell Schwächen, die unserem Land seit gut 70 Jahren erspart blieben. Denn wir kommen aus einer Zeit technologischer Führerschaft und komparativer Vorteile in Ausbildung und Generierung von Wissen. Diese Punkte haben sich aber gewandelt. Deutschland setzt das in harter Arbeit aufgebaute Volksvermögen nicht mehr zu seinem eigenen Fortschritt ein, um den erlangten Vorsprung vor vielen anderen Marktwirtschaften zu sichern. Noch schlimmer als die schwindende Innovationskraft belastet heute nach der Überwindung der Corona-Krise immer noch die Spaltung der Gesellschaft mit allen ihren negativen Begleiterscheinungen. Vor allem der Mittelstand hat durch extreme finanzielle Belastungen und Veränderungen in Regulatorik und Bürokratie einen Aderlass an Schlagkraft erlebt, der auf kurze Sicht und unter den aktuellen Gegebenheiten von ausufernden geopolitischen Konflikten nicht zurückkehren wird. Der Schuh drückt an zu vielen Ecken, nicht zuletzt ist die Energiesicherheit zu erschwinglichen Konditionen nicht mehr gegeben.
Für einen spürbaren Turnaround wäre es notwendig, eine mehr angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zu etablieren, welche die heimische Industrie stärkt und mit griffigen Zukunftsthemen versorgt. Für den geneigten Betrachter liegt der Fokus unserer aktuellen politischen Ausrichtung nicht in der Stärkung der inländischen Kaufkraft, sondern in der Fokussierung auf vielfach nicht wachstumsrelevante Themen der Sozialpolitik. Da sie mittlerweile für viele Mitbürger unerlässlich geworden ist, gewinnt die Staatsquote für das Wohl und Weh der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. Wichtiger wäre aber der konsequente Einsatz von Steuermitteln zur Förderung von privaten Investitionen aus dem Mittelstand, um den arbeitenden Menschen wieder eine Perspektive zu bieten. Denn nur dem großen Einsatz der Leistungsträger unserer Wirtschaft ist es zu verdanken, dass Deutschland noch auf Rang drei bis vier unter den größten Wirtschaftsnationen der Welt zu finden ist. Bedingungslose Grundeinkommen sind im internationalen Kontext eine deutsche Erfindung.
Unternehmer fällen ihre Investitionsentscheidung heute nicht mehr patriotisch, sondern rational, sie suchen innerhalb des neu entstandenen Wirtschaftsraums der EU nach den besten Opportunitäten für den Aufbau neuer Produktionsfazilitäten. Was Berlin gerne vergisst, ist die Tatsache, dass internationale Konzerne heute sehr schnell entscheiden können, welche Ansiedlungsregion die Marge aus ihrem Geschäft maximiert. So wundert es nicht, dass die neue Gigafactory von Volkswagen, die den Batteriebedarf der so arg politisch propagierten E-Mobilität des gesamten Konzerns ab 2026 liefern kann, nicht etwa in Wolfsburg entsteht, sondern in der aufstrebenden spanischen Region Valencia. Hier schafft der zweitgrößte Automobilhersteller der Welt mit nur geringer Förderung des spanischen Staates fast 4.000 Arbeitsplätze, welche hierzulande scheinbar nur mit Milliarden-Subventionen alla Intel überhaupt noch geschaffen werden können. Um Deutschland im internationalen Ranking der Chip-Produzenten von Platz 11 auf Platz 7 zu verbessern, nimmt Berlin eine Million Euro pro zugesichertem Arbeitsplatz in die Hand. Das ist mehr als 10 Jahre Lohnsubvention auf eine Ingenieursstelle im strukturschwachen Magdeburg. Es gibt in der Historie wohl kein anderes Subventionsbeispiel, dass eine Steuerverschwendung in diesem Ausmaß darstellt. Viel wichtiger wäre es laut vieler angesehener Experten, an den Standortfaktoren zu arbeiten, so dass Deutschland im internationalen Vergleich wieder als attraktiv eingestuft wird. Dann wäre es für Intel eine Selbstverständlichkeit, auch mit deutlich weniger öffentlichen Mitteln in Ostdeutschland und nicht in Asien zu investieren.
Wir sollten die Flinte aber noch nicht ins Korn werfen, denn ein Blick auf die Stimmung unter den Unternehmen verrät eine leichte Aufhellung zum Vormonat. Das Ganze fühlt sich zwar etwas homöopathisch an, beträgt doch der Zuwachs des vom ifo-Institut in München veröffentlichten Geschäftsklimaindex im Februar nur 0,3 Zähler auf noch niedrige 85,5 Punkte. Die marginale Verbesserung war auf etwas weniger pessimistische Erwartungen zurückzuführen. Die gedrückten Einschätzungen zur aktuellen Lage blieben hingegen unverändert. Im Ergebnis stabilisiert sich die deutsche Wirtschaft immerhin auf tiefem Niveau. Mittlerweile ist unsere Ökonomie mit dem Titel der „lahme Mann Europas“ ausgestattet. Es gab auch mal eine Zeit, in der wir als „Lokomotive“ bezeichnet wurden. Bekanntlich kann es vom letzten Platz nicht mehr weiter nach unten gehen, also sollte uns das Ergebnis zumindest für die nächsten Jahre ermutigen.
Einen positiven Aspekt bietet der gebremste Inflationstrend, welcher gegenüber der 2023er Jahresrate von plus 5,9 Prozent im laufenden Jahr mit plus 2,2 Prozent in den Korridor der EZB zurückkehren sollte. Im Januar und Februar wird mit + 2,9 bzw. +2,5 Prozent schon eine niedrigere Teuerung indiziert. Dennoch hat sich das Preisniveau seit 2021 um mehr als 20 Prozent erhöht, bezieht man Energie- und Stromkosten mit in die Berechnung ein. Für die Wirtschaft belastend ist auch der Wegfall der Mehrwertsteuer-Vergünstigungen aus der Corona-Pandemie. Dies verteuert vor allem Dienstleistungen und Restaurantbesuche. Für den deutschen Konsumenten bedeutet die Rückkehr eines Kapitalzinses seit 2022 aber auch eine leichte Abschwächung der realen Kaufkraftverluste. Dennoch bleibt das Konsumklima berechnet aus Einkommenserwartung, Anschaffungsneigung und Sparquote mit Minus 29 weit unter der expansiven Zone. Immerhin implizieren die negativen Trends einen Swing der Geldpolitik auf verschiedene Senkungsszenarien ab Mitte 2024. Aktuell führen die sehr hohen Tarifabschlüsse noch zur Zurückhaltung in der Zinspolitik der Notenbanken. Man möchte die einsetzende Lohn-Preis-Spirale nicht noch stärker manifestieren.
Größter volkswirtschaftlicher Minusposten ist neben der schwachen Konsumneigung auch der historische Einbruch in der Immobilienwirtschaft. Während Bestandimmobilien auf den erreichten Niveaus keine Käufer mehr finden, hat sich wegen hoher Baukosten und sinkender Absatzerwartungen auch beim Neubau ein Stillstand eingeschlichen. Diese Lähmung zieht sich mittlerweile durch alle Segmente. Für einige Bauherren der letzten Haussejahre könnte eine niedrigere Einwertung der beliehenen vier Wände auch zu einer Nachschusspflicht in den Sicherheiten führen, wenn die nächste Zinsanpassung ansteht. Die Immobilienpreise haben zum Ende 2023 im Jahresvergleich noch einmal um rund sieben Prozent verloren, wie die Daten des Verbands deutscher Pfandbriefbanken (vdp) zeigen. Das betrifft Häuser und Wohnungen, aber vor allem Büros – und wird zu einem wachsenden Problem für die Finanzierer. Die Preise für privates Wohneigentum und Gewerbeobjekte sind im vierten Quartal 2023 im Drei-Monats-Vergleich wieder mit -2,2 Prozent stärker gefallen als im Vorquartal (minus 1,7 Prozent). Der vom vdp berechnete Immobilienpreisindex zeigt einen Wert von 175,2 Punkten (Basiswert 2010 = 100). Gegenüber dem bisherigen Höchststand des zweiten Quartals 2022 (194,8 Punkte) hat der Indexwert gar deutliche zehn Prozent eingebüßt. Hauptgrund für den Preisverfall sind demnach die gestiegenen Zinsen, die den Kauf einer Immobilie für viele Marktteilnehmer nicht mehr leistbar machen. Auch für Großanleger rechnen sich derzeit Real Estate Investments nur noch in speziellen Lagen und Sondersituationen mit Förderkomponenten. Auch die Bundesregierung bleibt mit dem sozialen Wohnungsbau auf der Strecke und verschärft den jüngst entstandenen Behausungsnotstand. Da die eigenen vier Wände einen wichtigen Teil des volkswirtschaftlichen Vermögens in Deutschland ausmachen, wird der Zukunftskonsum weiter unter einer höheren Sparquote leiden müssen.
Ein Blick über den Teich zeigt den Volkswirten eine fast konträre Situation der Faktenlage. Die USA wachsen noch in kleinen Schritten und profitieren von bislang erfolgreichen staatlichen Konjunkturprogrammen der Biden-Administration wie z.B. der Verlängerung der Steuersenkungen für die Mittelschicht oder dem Inflationsreduzierungsgesetz (IRA). Nun, im anstehenden Wahljahr werden die Karten neu gemischt. Traditionell sind keine politikfördernden Maßnahmen der Fed zu erwarten. Der politische Umschwung zu Gunsten der republikanischen Partei unter Führung von Ex-Präsident Donald Trump könnte die internationalen Beziehungen verändern und Europa in eine forcierte Unabhängigkeitsdiskussion führen. Die Ausdehnung und Aufrüstung der NATO war für die USA ein Sonderkonjunktur-Programm, das mit niedrigen Energie- und Rohstoffkosten zur rechten Zeit bewältigt wurde. Immerhin konnten die Vereinigten Staaten in 2023 ein Wachstum von 2,5 Prozent vorweisen, Europa und Deutschland endeten nur knapp gehalten bzw. mit einem Minus von 0,3 Prozent. Mit einem möglichen Machtwechsel in den USA steigt der Druck auf die EU mit ihren belasteten Standortfaktoren und einem kräftezehrenden Krieg direkt vor der Haustür. Berlin ist insbesondere gefordert, das Ruder für unsere Volkswirtschaft um 180 Grad herumzureißen, meint die innenpolitischen Reibereien zugunsten einer klaren Stärkung des deutschen Industriestandorts zu überwinden. Das erfordert jedoch eine sofortige Neuordnung der Verwendung von Steuergeldern zugunsten einer Incentivierung der erfolgreichen Tugenden der letzten Jahrzehnte. Sie haben Deutschland einst reich gemacht und werden auch die viel zitierte Zeitenwende meistern.